Montag, 20. Mai 2013

Gedicht von Marie Luise Kaschnitz




Am Strande



Heute sah ich wieder dich am Strand

Schaum der Wellen dir zu Füßen trieb

Mit dem Finger grubst du in den Sand

Zeichen ein, von denen keines blieb.



Ganz versunken warst du in dein Spiel

Mit der ewigen Vergänglichkeit

Welle kam und Stern und Kreis zerfiel

Welle ging und du warst neu bereit.



Lachend hast du dich zu mir gewandt

Ahntest nicht den Schmerz, den ich erfuhr:

Denn die schönste Welle zog zum Strand

Und sie löschte deiner Füße Spur.

Sonntag, 19. Mai 2013

Ein neuer Tag

Mein Großvater stand immer mit der Sonne auf.
Sie war sein ältester Freund.

Seine Vordertür des Krämerladens, den er führte,
ging nach Osten hinaus, und dort saß er
in seinem blaugestrichenen Sessel aus Föhreholz,
geschnitten in seinen eigenen Wäldern,
und wartete, bis die ersten Sonnenstrahlen sein Gesicht berührten.

Mit der höhersteigenden Sonne wuchs seine Kraft,
seine Hände bewegten sich wie im Nachtfrost erstarrte Grillen,
die im morgendlichen Gras wieder zum Leben erwachen.

Dann, bevor er sein langes Tagwerk begann,
hob er die Hände und hielt sie hoch,
bis sie die Stille umfaßten - so begrüßte er den Tag.


(Joseph Bruchac, Mutter entstammt der Abenak)
Blick aus meinem Fenster- 2010 Oberneukirchen